Es ist Freitag, ich bin seit zwei Wochen in Melbourne und verliebt! Verliebt in diese wunderbare, kreative Stadt, die mich stark an Berlin erinnert. Same same but different. Ich habe mich für dieses Wochenende für ein Yoga-Meditations-Retreat im Hare Krishna Valley angemeldet. Bevor es heute Abend losgeht möchte ich mir noch Chinatown im CBD ansehen. Ich lasse mich treiben, laufe durch die Straßen.
Es ist Mittagszeit, die Stadt ist voll, voll mit Menschen. Man spürt die geballte Ladung der Energien der Menschen. Es sind eher gestresste, schnelle Energien, kein Wunder, scheint hier doch fast jeder in Hektik. Schnell was zu essen in der Mittagspause holen, dabei die Augen kaum vom Smartphone weichen lassen. Mittagessen reinschaufeln und zurück an den Arbeitsplatz. Auf dem Weg zurück wird vielleicht noch kurz die Familie angerufen, vielleicht ruft aber auch schon die Firma an, weil es um einen extrem wichtigen Deal geht. Deal geht vor Pause, sowieso!
Ich bin bereits um die Ecke gegegangen als mich irgendwas stoppen lässt
Ich laufe an einem Mann vorbei, der vor einem Buchladen auf einem Stück Pappe sitzt. Vor ihm eine Mütze mit ein paar Geldmünzen darin. Zwischen all der Hektik strahlt er eine extrem ruhige Energie aus. Er ist eher passiv und schaut auf den Boden. Ich bin bereits um die Ecke gegangen als mich irgendwas stoppen lässt. Ich verspüre den Drang zurückzugehen, suche eine Banane und ein paar Münzen aus meinem Rucksack für ihn zusammen und kehre um.
Ich plaudere kurz mit Anthony und mache mich dann weiter auf die Suche nach meinem Mittagessen. Ich lande letztendlich beim Inder. Heute gibt Palak Paneer, lecker Naan Brot und einen noch viel leckeren Mangolassi. Es ist soviel Essen, dass ich es gar nicht aufessen kann. Ich lasse es einpacken und freue mich die Reste Anthony bringen zu können. Er strahlt über das ganze Gesicht und bedankt sich. Ganz erfreut zeigt er mir ein Päckchen Kekse, zugebunden mit einer rosa Schleife und einem gemalten Bild. Ein sechsjähriges Mädchen und ihre Mutter haben ihm diese heute vorbei gebracht. Wir verabschieden uns und Anthony wünscht mir ein schönes Wochenende.
Was ist die Story dahinter, sich jeden Tag an dieselbe Stelle zu setzen und andere Menschen, auch wenn eher passiv, um Geld zu bitten?
Es vergeht eine Woche, es ist wieder Freitag und ich diesmal auf dem Weg in die Bibliothek. Ich habe oft an Anthony gedacht, habe oft das Bild des alten, sehr gepflegten Mannes im Kopf, wie er vor dem Buchladen sitzt und die Menschen erfüllt von Hektik vorbeilaufen. Mich interessiert seine Geschichte. Was ist die Story dazu, sich jeden Tag an dieselbe Stelle zu setzen und andere Menschen, auch wenn eher passiv, um Geld zu bitten? Wo lebt/schläft er? Auf dem Weg zu ihm finde ich 20 Dollar auf der Straße und mir ist sofort klar, das ist ein Geschenk für Anthony.
Er freut sich mich zu sehen und erkundigt sich nach meiner Woche. Ich setze mich zu ihm auf den Boden, finde ich es doch angenehmer auf derselben Höhe zu sein. Ich nehme erstmals wahr wie das Gefühl ist „am Boden“ zu sitzen, inmitten des Getummels der Großstadt. Es ist ein komisches Gefühl. Stehen doch die Menschen, die an einem vorbeilaufen oder auch kurz stehen bleiben, bildlich „über einem“. Ich frage Anthony zu seinem Gefühl und seinen Erfahrungen dazu. Er erzählt mir von einem breiten Spektrum an Menschen und Verhaltensweisen. Wie es im größtenteils egal ist und ihn dann doch manchmal auch sehr verletzt.
Ich bin ein Mensch, er ist ein Mensch, es gibt keinen Unterschied.
So bin ich beeindruckt davon, dass er die Arroganz und die Abneigung vieler Menschen nicht an sich ranlässt. Er sagt: „Es ist nicht mein Problem, wenn die Menschen denken sie sind etwas Besseres. Nur weil sie vielleicht einen teuren Anzug tragen, weil sie „über mir“ stehen, „auf mich herab blicken“. Ich bin Mensch, er ist Mensch, es gibt keinen Unterschied. Wenn Menschen das nicht erkennen ist das nicht mein Problem und deswegen fühle ich mich auch nicht schlechter oder besser“. Wahrscheinlich bin ich auch deswegen so beeindruckt, weil es mir selbst eben oft nicht gelingt, finde ich mich doch vor allem bei dominanten Personen nicht selten in einer minderwertigen Rolle wieder.
Vielleicht haben sie schlechte Erfahrungen gemacht…
Er erzählt mir jedoch auch wie am Tag zuvor eine Mutter ihre Tochter von ihm weggezogen hat. Das hat ihn sehr getroffen. Er nimmt nur kurze Sequenzen aus Gesprächen von Leuten war, die an ihm vorbeilaufen. Oft fallen Worte wie „Schande“, „Drogen“, „Abschaum“. Menschen urteilen schnell, sagt er. „Vielleicht haben sie schlechte Erfahrungen gemacht. Viele Menschen denken, dass ich zwangsläufig ein Alkoholiker, Drogenabhängiger oder psychisch krank bin, weswegen sonst sollte ich hier auf der Straße sitzen. Ich bin doch aber ok. „
Diese kurze Erfahrung „am Boden“, gibt mir zu denken! Wir urteilen so oft viel zu schnell. Fast automatisch kommt zu jeden Moment den wir erleben ein Bild und gleichzeitig ein Urteil, ob positiv oder negativ, in uns auf. Dieses Urteil ist jedoch nur unsere ganz eigene Wahrheit, die auf unseren Erfahrungen beruht. Ohne die „wirkliche“ Wahrheit und Geschichte zu kennen machen wir oft von vornherein unsere Schotten dicht und lassen gar kein Raum dafür die Geschichte zu erfahren, weil wir wissen es ja eh schon.
Was macht uns besser als andere?
Warum vergessen wir so oft füreinander da zu sein? Was macht uns besser als andere? Wir werden nie in solch eine Situation kommen, denken wir. Haben das die Leute, die nun leider selbst in solch einer Situation sind wahrscheinlich nicht auch selbst mal gedacht? Was macht uns so sicher, dass wir uns nicht selbst in so einer Lage wiederfinden? Weil wir vielleicht die Vorstellung haben dazu muss einiges passieren und davor sind wir sicher?! Es gibt keine Sicherheit! Von einen auf den anderen Moment kann auf einmal alles anders sein und wir finden uns in einer Situation wieder von der wie nie gedacht hätten, dass wir jemals dort reingeraten würden, ob positiv oder negativ.
So erwähnt auch Tony, dass man im Leben oft an Abzweigungen kommt und sich für rechts oder links entscheiden muss. Was jedoch, wenn man nach einer Weile bemerkt, dass der Weg für den man sich entschieden hat nicht der richtige Weg war und es aber auch kein zurück mehr gibt?
Oft können Menschen ihren Schmerz nicht ertragen…
Anthony hatte alles was von den meisten in der Gesellschaft erwartet wird. Job, verheiratet und Kinder. Durch unglückliche Umstände verliert er zunächst seinen Job und darauf seine Familie. Oft können Menschen ihren Schmerz nicht ertragen, es wird sich in Arbeit oder andere Ablenkungsmanöver gestürzt. Anthonys Stütze in dieser Zeit wird mehr und mehr der Alkohol. Er betäubt sich so stark, dass er nichts mehr fühlt. „Oft bin ich am nächsten Morgen aufgewacht und wusste nicht was ich letzte Nacht gemacht hatte“, sagt er. Der Schmerz ist dadurch nicht verschwunden. Anthony verliert sich schließlich komplett im Rausch und Betäubung und kommt vom Weg ab.
Eins führt zum anderen und er muss für zwölf Jahre ins Gefängnis. Zwölf Jahre in denen man viel Zeit hat um nachzudenken. Wieder entlassen versucht er seine Kinder ausfindig zu machen, jedoch erfolglos. Mittlerweile hat er seine Töchter über 30 Jahre nicht gesehen und würde sie auch nicht erkennen, wenn sie an ihm vorbeigehen würden. Die letzten acht Jahre pflegt Anthony rund um die Uhr seine schwer kranke Mutter und begleitet sie bis an ihr Lebensende im Oktober 2014.
Diesmal wird das Pokerspiel zu seinem Betäubungsmittel
Nach dem Verlust seiner Mutter ist er wieder alleine. Mit 63 Jahren gestaltet es sich schwierig einen Job zu finden. Von jetzt auf gleich hat er viel Freizeit. Diesmal wird das Pokerspiel zu seinem Betäubungsmittel. Ist doch das Casino oder die Spielhalle kein seltsamer Ort um alleine hinzugehen, sagt er. Neun Monate nach dem Tod seiner Mutter ist er wieder tief unten am Boden und findet sich schließlich auch in der Öffentlichkeit „am Boden“ auf der Straße wieder. Seit Juli 2015 sitzt er jeden Tag an der selben Stelle vor einem Buchladen im CBD.
Seine Geschichte berührt und schockiert mich zugleich. Während seinen Erzählungen merke ich, wie auch ich manchmal abschweife und mich frage: „Ja, aber das hätte man doch so und so machen können!“. Ja hätte man vielleicht, in meiner Wahrnehmung, in meiner Wahrheit. Das gibt mir allerdings nicht das Recht darüber zu urteilen. Letztendlich sind doch die meisten Taten darauf zurückzuführen, dass Menschen nicht geliebt werden, sei es von sich selbst oder von anderen. Taten sind eben oft ein Schrei nach Liebe, wie die Ärzte schon zu sagen gepflegt haben auch, wenn sie eine andere Zielgruppe damit meinen. Der Kontext bleibt.
Wir müssen einfach mehr Liebe geben
Das Heilmittel dagegen ist so einfach und anscheinend doch so schwer. Wir müssen einfach mehr Liebe geben. Mit Hass, Verurteilung und Abweisung wurde noch niemand geheilt. Im Gegenteil, mehr Frustration wird gestreut. Dabei hilft im diesem Fall doch schon ein Lächeln, ein kurzer Plausch. Es geht eben nicht nur um Geld geben oder nicht.
Während ich mit Anthony auf dem Boden sitze, laufen viele Menschen vorbei die Anthony kennen. Sie bleiben stehen und reden kurz mit ihm, bringen ihm einen Kaffee oder etwas zu Essen. Wenn er mal einen Tag nicht da ist oder später kommt, sind die Geschäftseigentümer im Umkreis besorgt, dass etwas passiert ist. Er gehört mittlerweile zu dieser Familie. Es gibt ihm Halt und hält ihm gleichzeitig davon ab ins Casino zu gehen.
Neulich hat ihm ein Mann neue Markenturnschuhe geschenkt, die wesentlich besser für seine Knieprobleme sind. Er kann sie jedoch nicht tragen, weil Leute dann eben wiederum denken, der hat ja neue Turnschuhe warum sitzt er dann hier auf der Straße. Es ist nicht immer leicht, aber wir müssen uns frei machen von unseren Schlüssen, die wir über Situationen und andere Menschen ziehen – denn wie dieses Beispiel zeigt, es entspricht nicht der Wahrheit. Das Bild das wir sehen gibt keinen Aufschluss über die Realität!
DANKE ANTHONY!
Ich besuche Anthony mehrmals die Woche und wir halten immer einen netten Kaffeeklatsch. Er gehört zu den Menschen, die mich dieses Jahr stark mit ihrer Geschichte berührt haben und mich etwas Neues gelehrt haben. Die Zeit mit ihm war sehr besonders und ich bin unheimlich dankbar dafür, dass unsere Wege sich gekreuzt haben und ich nicht rechts, sondern links abgebogen bin, an diesem einen Freitag an dem ich durch das Großstadtgetummel gezogen bin, auf der Suche nachdem perfekten Mittagessen. DANKE ANTHONY! Ich wünsche dir von Herzen nur das Beste.
Falls ihr jemals in Melbourne sein werdet, stattet Anthony einen Besuch ab. Er freut sich und ist ein super Gesprächspartner. Ihr könnt ihn jeden Tag in der Bourke Street vor dem The Paperback Bookshop antreffen. Anthony und meine Message zum Abschluss ist, schenkt den Leuten, die sich eh schon in so einer schlimmern Lebenslage befinden ein Lächeln, auch wenn sie es manchmal nicht erwidern können. Wir haben keine Vorstellungen wieviele Beschimpfungen und Ablehnungen sie bereits an diesem Tag wieder erfahren haben.
Give love and smile ♥
Eure Nathalie
Danke für diese Geschichte.
Gerne. Danken wir Anthony, dass er sie mit uns geteilt hat!
Hey Nathalie, ich bin heute durch Zufall auf deinen Blog und diesen Text hier gestoßen und finde ihn sehr berührend! Es ist nicht nur toll, was du gemacht hast, und dass du diesem Menschen Liebe gegeben hast, sondern auch, wie und dass du es aufgeschrieben hast und uns damit alle daran teilhaben lässt. Vielen Dank dafür!
Liebe Birte,
vielen lieben Dank für deine Worte. Sie haben mir sehr berührt. Die letzten Tage habe ich zudem vermehrt an Anthony gedacht und da kam dein Kommentar noch obendrauf dazu. Ich danke dir von Herzen! Alles Liebe